Eindrücke aus Beirut
Beirut. Ein wunderschöner Name für eine wunderschöne Stadt. Direkt nach der Ankunft, immer noch halb in den Wolken, mit Freund*innen durch die Stadt laufen, an einem Museum bei Open-Air-Kino auf einem Sitzsack liegen, in die Sterne schauen, Kniffel spielen, überteuerten Strawberry-Margarita teilen und einen verstörenden deutschen Nachkriegsfilm schauen. Es ist alles so schön und so absurd, schön absurd.
‚Absurd‘ beschreibt diese Stadt tatsächlich ganz gut. Sie ist geprägt von extremen Gegensätzen. Neben glatten gläsernen Neubauten stehen dicht an dicht halb zerbombte alte Villen mit Erkern und großen Fenstern. Seit dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs 1990 erlebt die Stadt eine Gentrifizierung in atemberaubender Geschwindigkeit. Sie ist geprägt von neoliberaler Politik, bei der der Markt privaten Investoren überlassen wird und die Stadt sich von stadtplanerischen Maßnahmen zurückzieht. So wurde die Innenstadt Beiruts nach dem Bürgerkrieg neu aufgebaut: die Häuser wurden vollkommen entkernt und die Fassaden restauriert. Vergleicht man vorher-nachher Bilder sieht man die Ähnlichkeit, trotzdem wirken die Straßen, die vom Place de l‘étoile abgehen, auf mich irgendwie merkwürdig modern und deplatziert. In einigen Vierteln schießen Hipster-Kneipen und Boutiquen aus dem Boden: So zum Beispiel zur Zeit in Mar Mikhael, das als angesagtes Party-Viertel gilt. Auch die Mietpreise für neue Wohnungen im Zentrum schnellen extrem stark in die Höhe, während direkt nebenan Menschen teilweise noch nach altem Mietgesetz wohnen und nur etwa $100 bezahlen für Wohnungen, die schon längst $2000 wert wären.
Die absurdesten Züge nimmt dieser neoliberale Gentrifizierungswahn aber im zentral gelegenen Wadi Abu Jamil an: Das frühere jüdische Viertel wurde größtenteils im Krieg zerstört. Die übrigen Gebäude wurden nach dem Krieg abgerissen und wichen Großbauprojekten für Luxuswohnanlagen. Es wirkt wie ein Geisterviertel, denn die Preise sind so hoch, dass viele Wohnungen immer noch leer stehen. Die restlichen Wohnungen wurden größtenteils an reiche Investor*innen verkauft, die diese nur als Geldanleihe nutzen, so dass kaum Menschen dort wohnen. Das Viertel ist außerdem für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, da es auf Grund seiner Nähe zum Grand Serail (der Sitz des Premierministers) von Militärposten abgesperrt wird. Doch Leerstand prägt nicht nur dieses Viertel. Überall stehen verwahrloste Häuser zwischen den schicken Neubauten, die eine ganz andere Dimension des Leerstands zeigen. Bäume wachsen durch halb verfallene Fassaden und Einschusslöcher übersähen die Wände. Hier scheint die Zeit seit dem libanesischen Bürgerkrieg still gestanden zu haben. Oft sind es Erbstreitigkeiten, die die Leerstände verursachen: viele Menschen flohen zur Zeit des Bürgerkriegs in unterschiedliche Teile der Welt. Bei der Nachricht eines Hausbesitzes können sich die zerstreuten Kinder oft nicht auf eine*n Besitzer*in einigen oder haben kein Interesse an einem Haus in Beirut und überlassen dies somit dem Verfall.
Ich sitze auf dem Balkon einer viel zu schicken Wohnung und schaue auf den Betonblock vor mir, der hoch in den Himmel aufragt. Ein Gebäude, das nie fertig gestellt wurde. Sondern nur zerschossen. Jetzt wehen bunte Tücher in den Fenstern. Ein Kunstprojekt. Am Himmel dahinter zucken die Blitze. Es wird langsam dunkel. Weiter links, verdeckt von schicken neuen Hochhäusern, steht das alte Holiday Inn. Es ist immer noch das größte Holiday Inn des Nahen Ostens. Ein riesiger Block, ohne Fassade, voller Einschusslöcher. Grün wuchert aus dem ehemaligen Dachrestaurant mit einer sich drehenden Terrasse. Geisterhaft erinnert es an einen Krieg, der so ähnlich und doch ganz anders, gar nicht weit von hier weiter herrscht. Ich sitze mitten in der Green Line, in der Zone zwischen Ost- und Westbeirut, die man damals nicht betreten konnte, ohne um sein Leben zu fürchten. Totes Gebiet. An das mich jetzt nur noch die Skelette dieser Betonbunker und hart umkämpften Gebäude erinnern.
Der Libanon gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zum Osmanischen Reich und wurde dann zu französischem Mandatsgebiet. Im Zuge der Arabisch-Israelischen Kriege nach Ende des Zweiten Weltkriegs flohen sehr viele Palästinenser*innen in das Land. Der libanesische Bürgerkrieg begann 1975 als Konflikt zwischen vor allem maronitischen Christ*innen (Teil der katholischen Ostkirche) und Muslim*innen und weitete sich zu Kämpfen zwischen unterschiedlichsten religiösen und politischen Gruppierungen aus: Palästinensische Gruppen und Unterstützer*innen der PLO (Palestine Liberation Organization unter Arafat) kämpften gegen israelische und proisraelische Gruppen, Sunniten gegen Schiiten, Christen gegen Drusen (religiöse Gruppe, die Elemente der muslimischen Lehre mit esoterischen Ansichten verbindet), prosyrische gegen proiranische Milizen und linke (zu Beginn größtenteils in der libanesischen Nationalbewegung auf Seiten der PLO) gegen rechte Bürgerkriegsparteien (große Teile der christlichen Libanesischen Front unter Gemayel). Es war ein komplexer Bürgerkrieg, bei dem sich die Fronten ständig veränderten. Der libanesische Autor Rashid ad-Da’if beschreibt es so: „Der Krieg war dann aber kein Kampf von Arm gegen Reich, sondern von Arm und Reich gegen Reich und Arm. Palästinenser bekämpften sich untereinander, Syrer kämpften mit Palästinensern gegen Christen, dann mit Christen gegen Palästinenser. Schließlich die Christen untereinander und gegen die Drusen, alle miteinander und gegeneinander – wer sollte das verstehen? […] Am Ende haben wir über die gelacht, die versucht haben, die Zustände zu analysieren“.
Etwa 120.000 Menschen starben in dem Krieg. Die Auseinandersetzungen begannen im April 1975 in Beirut, als vermutlich PLO-Schützen unter anderem zwei Maroniten töteten, woraufhin maronitische Schützen einen Bus voller Palästinenser*innen beschossen. Wenige Monate später etablierte sich mit der Battle of the Hotels in Beirut eine Grenzlinie durch das heutige Zentrum Beiruts, die die Stadt damals in eine westliche muslimische und östliche christliche Hälfte teilte. In dem Kampf beschossen sich Scharfschützen der unterschiedlichen Milizen von den Hoteldächern des Viertels. Die beiden wichtigsten Gebäude waren dabei das ehemalige Holiday Inn und das nie fertig gestellte Hochhaus Burj al-Murr, da sie zu den höchsten Gebäuden der Stadt zählten und außerdem gerade noch in Schuss-Distanz voneinander lagen. Mit diesem Kampf verfestigte sich die Trennung zwischen West- und Ostbeirut, die bis zum Ende des Krieges anhielt. Die Grenze wurde dabei als Green Line bezeichnet, die ein Gebiet darstellte, das nur unter großem Todesrisiko durchquert werden konnte. Ab 1976 griffen verstärkt syrische Truppen in den Krieg ein und kämpften aus Gründen territorialen Interesses gegen die PLO. Im hunderttägigen Krieg, der in Beirut stattfand, kam es dann zum Kampf zwischen syrischen Truppen und christlichen Milizen. Über die Zeit zerfielen die Bündnisse der muslimisch geprägten libanesischen Nationalbewegung und der christlichen libanesischen Front immer stärker in einzelne Splittergruppen. Nach Angriffen der PLO in Nordisrael besetzte Israel den Süden des Libanons und verübte einige Bombenanschläge auf Beirut. Es folgte eine UN-Resolution, die den Abzug israelischer Truppen aus dem Libanon und den Rückzug der PLO-Milizen aus Beirut forderte. Der Iran mischte sich auf Seiten der Hezbollah (schiitische Miliz) in den Konflikt ein. Auch nach den 1989 eingeleiteten Friedensverhandlungen kam es weiterhin zu Konflikten zwischen den politischen Führern in West- und Ostbeirut. Mit dem Eingreifen Syriens unterlagen die maronitischen Kräfte, ihr Anführer Aoun floh nach Paris und es kam zum Ende des Bürgerkriegs und zum Beginn einer Zeit syrischer Okkupation, die erst 2005 endete.
Beirut. Noch selten viel es mir so schwer zu realisieren, wo ich eigentlich bin. Alles, was ich habe, auf dem Rücken, im rumpligen Minibus vom Flughafen, durch die Alltagsstaus, in eine Stadt, die ich nicht kenne. Aber die mich mit lauter schönen Erfahrungen begrüßt: Der Taxifahrer, den ich am Flughafen nach öffentlichen Verkehrsmitteln gefragt hatte, hatte mir, weil ich vollkommen verplant hatte, Geld abzuheben, einfach 2000 Libanesische Pfund für den Minibus geschenkt und der zweite Fahrer wollte mich sogar umsonst mitnehmen. Abends durch Hamra laufend wurde ich dann bei einer Bäckerei eingeladen, mit den Mitarbeitern das Fasten zu brechen. Und langsam komme ich vielleicht auch ein bisschen an – weil wann ist man schon so richtig angekommen? – auf diesem Balkon mit Blick über Kantari.
Das politische System des Libanons ist stark von den Erfahrungen des Bürgerkriegs geprägt: Die Parlamentssitze und Regierungsposten werden beispielsweise gemäß religiösen Gruppierungen verteilt. Das Parlament besteht immer zur Hälfte aus christlichen Abgeordneten und zu weiteren 50 Prozent aus muslimischen und drusischen Politiker*innen. Das Staatsoberhaupt muss maronitischer Christ sein, der Parlamentspräsident schiitischer Muslim und der Regierungschef sunnitischer Muslim. Die Aufteilung dieser Posten beruht immer noch auf der Volkszählung von 1932, bei der über 50 Prozent der Bevölkerung angaben, christlich zu sein, gefolgt von den Sunniten, der zweitgrößten religiösen Gruppe, und an dritter Stelle den schiitischen Muslimen. Da seit dem keine offizielle Volkszählung mehr durchgeführt wurde, gibt es heute nur Schätzungen über die Verteilung an Konfessionen. Allerdings wird vermutet, dass sich die Anteile seit damals stark verändert haben und die Bevölkerung mittlerweile überwiegend muslimisch ist. Die veraltete Aufteilung wird daher häufig kritisiert, wie auch generell das konfessionsgebundene System zur Zeit verstärkt in Frage gestellt wird.
Es gibt immer wieder große Proteste, die sich gegen die Korruption und die Regierungspolitik richten. Besonders die starken wirtschaftlichen Probleme des Landes führen immer wieder zur Regierungskritik. Zuletzt kam es ab Oktober 2019 zu Massenprotesten, die erst seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie ausbleiben. Diese begannen als Protest gegen eine geplante WhatsApp-Steuer und weiteten sich aus zur Kritik am religiösen System als Ganzem und der Forderung des Rücktritts aller Politiker*innen. In die Proteste wurde dabei oft brutal von der Polizei eingegriffen und es kam zu schweren Auseinandersetzungen. Hier prallen die Widersprüche der Stadt direkt aufeinander, die überall und ständig spürbar sind: Eine Stadt, in der unterschiedliche Zeiten, Konfessionen, Ästhetiken, Schichten und Geschichten aneinander reiben.
Noch ein paar Tipps und Quellen:
- Ankunft am Flughafen: Entgegen der meisten Auskünfte gibt es vom Flughafen aus Möglichkeiten des öffentlichen Transports in die Innenstadt. Dafür muss man in den ersten Stock des Gebäudes zur Abflughalle, draußen fährt dort ein Van-al-matar Richtung Beshara el-Khoury. Das kostet 1000 LL. Von dort gibt es shared service Taxis, die in die verschiedenen Teile der Stadt fahren.
- Empfehlenswerte Bücher und Filme über den libanesischen Bürgerkrieg: Nicolas Born – Die Fälschung; Ziad Doueiri – West Beirut; Ziad Doueiri – The Insult
- Kunstgeschäft/-gallerie: Plan Bey ist ein Projekt, bei dem lokale Künstler*innen in zwei Geschäften Kunstobjekte ausstellen und verkaufen können. Es lohnt sich auf jeden Fall, den Läden einen Besuch abzustatten.
- Hauptinformations- und Inspirationsquelle für diesen Text war die wunderbare Stadtführung von Walk Beirut, die ich 2018 in meiner kurzen Zeit dort besucht habe. Auch wenn die Führung nicht ganz billig ist (20$) lohnt sie sich über die Maßen: ich war beeindruckt, berührt und fasziniert von den Geschichten über diese Stadt und habe versucht, hier möglichst viele meiner Erinnerungen einzubringen.
- Hier ein Text zur Gentrifizierung in Beirut.
- Hier ein kurzer Clip über das ehemals jüdische Viertel Wadi Abu Jamil.
- Außerdem gibt es hier einen Artikel zu den aktuellen Protesten im Libanon und ihrem Ende mit der Corona-Pandemie.
- Und hier eine spannende Reportage über die Linke des Libanons.